Pfarrer Markus Giger ist Gründer und Co-Leiter der streetchurch in Zürich. In seiner Festpredigt anlässlich der Diplom- und Eröffnungsfeier des TDS Aarau plädiert er für eine Kirche, die mehr heilende und versöhnende Gemeinschaft und weniger Institution ist. Die Predigt wird in gekürzter Fassung wiedergegeben.
Es gäbe eine Vielzahl von feierlichen Themen, doch ich habe mich entschieden, mit Ihnen meine Sorge um den Zustand der Kirchen und Gemeinden in unserem Land zu teilen. Gleichzeitig will ich die Anwesenheit von so vielen kirchlichen Verantwortungsträgern nutzen, uns alle - und insbesondere die diplomierten und zertifizierten Reich-Gottes-Arbeiterinnen und -Arbeiter - zu ermutigen, das Potential des uns von Christus ermöglichten Versöhnungsgeschehens zu entdecken und daraus gesellschaftsrelevante kirchliche Gemeinschaften zu entwickeln.
In Lukas 10 mahnt uns Jesus: «Die Ernte ist gross, Arbeiter aber sind nur wenige. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.» Amen. (...)
Die jungen Gemeindemitarbeiter, die auch heute wieder voller Zuversicht ihr Diplom und ihr Zertifikat empfangen haben, werden in eine raue Umgebung entlassen; die allermeisten Gemeinden haben den Wind nicht im Segel, vielmehr rudern sie gegen eine steife Brise. Ja, es wäre ein leichtes, diese Predigt zum grossen lamento über den Zustand der hiesigen Kirchen und Gemeinden auszubauen. Doch damit wäre wenig gewonnen und vor allem die Chance verpasst, gemeinsam über das Notwendige für uns heutigen Baumeister - oder vielleicht auch nur Handlanger - im Reich Gottes nachzudenken. Denn ich bin überzeugt, so schwer wäre es eigentlich nicht, das Evangelium für die Menschen um uns herum attraktiv zu verkündigen - oder besser: das Evangelium für und mit den Menschen vor der Kirchentüre anziehend zu leben.
Wir leben nicht, was wir verkündigen!
Emil Brunner, der grosse Zürcher Theologe stellt meines Erachtens in seiner Dogmatik bereits im Jahre 1960 eine geradezu prophetische Diagnose für das Krankheitsbild unserer heutigen Kirchen und Gemeinden:
"Eine Kirche, die dem modernen Menschen nur als Institution begegnet, die um ihres angeblichen Gotteswortes willen existiert und ausschliesslich auf diesen Zweck hin ausgerichtet ist, die ihn also weder selbst in eine Gemeinschaft einschliesst, noch zum Problem der
«Die Gemeinschaftslosigkeit der Institution Kirche, ihr Auseinanderreissen von Reden und Sein, ist der tiefste Grund, warum so viele heutige Menschen ihr den Rücken kehren.» Emil Brunner
Gemeinschaftsgestaltung etwas Erhebliches zu sagen hat, ist ihm von vornherein unglaubwürdig. Er mag darum auch ihr Wort nicht hören. [...] Darum ist die Predigt, hinter der keine Gemeinschaft, sondern bloss eine Institution steht, unglaubwürdig. Die Predigt des Evangeliums ist also nicht zu trennen vom Sein der Ekklesia als Gemeinschaft. [...] Die Gemeinschaftslosigkeit der Institution `Kirche`, ihr Auseinanderreissen von Reden und Sein, ist der tiefste Grund, warum so viele heutige Menschen ihr den Rücken kehren."
Meines Erachtens ist in diesem Zitat das Epizentrum der Krisen unserer Kirchen und Gemeinschaften identifiziert: Wir leben nicht, was wir verkündigen!"
In einer Welt voller gesellschaftlicher Divergenzen treten wir Christen an mit dem Anspruch, dass der Glaube an Jesus sowohl das geplagte Individuum wie auch das gefährdete kollektive Miteinander zu heilen vermag. Aber wo vermögen wir diesen Anspruch gesellschaftlich relevant einzulösen?
Müssen wir Brunner nicht recht geben? Unser Reden und Sein als Kirchen und Gemeinden entsprechen sich nicht; zumindest nicht in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen und nicht in der öffentlichen Wahrnehmung. Darum sind wir für die draussen vor der Kirchentür schmerzlich oft unglaubwürdig, unattraktiv, und letztlich gesellschaftlich irrelevant.
«Das Wort wurde Fleisch.»
Eine der faszinierendsten Beobachtungen, die uns in der streetchurch seit den Anfängen in immer grösserem Masse beschäftigt und gleichzeitig unsere Gemeinschaft formt, ist, dass Worte und Taten Jesu sich gegenseitig interpretieren und sich vollkommen entsprechen. Meines Erachtens spiegelt sich in dieser Entsprechung die Menschwerdung Gottes:
«Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns.» (Joh. 1,14)
In dieser vollkommenen Entsprechung von Reden und Handeln liegt meines Erachtens einer der Gründe für die überwältigende Attraktivität, die Jesus auf die Menschen seiner Zeit ausübte. Eine Anziehungskraft, die unseren Gemeinden weitgehend ab- handengekommen scheint. Daher fordert Brunner in seinen - geradezu prophetischen - Worten zum Zustand der Kirche nichts weniger, als dass sich die Menschen der Kirche mit ganzer Hingabe um diese Entsprechung von Reden und Sein, von Wort und Tat bemühen. Es geht darum, dass sich unser Reden vom Glauben genauso in unserem Handeln inkarniert, wie sich das Wort Gottes im Sein Jesu inkarniert hat.
Kirchen als Orte der versöhnenden Gemeinschaft
Das Ziel der Inkarnation, von Reden und Handeln Jesu aber ist Versöhnung und schafft Versöhnung. Unvergleichlich dicht bringt das Paulus auf den Punkt, wenn er im 2. Kor. 5,18 festhält. «Alles aber kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat.»
Es ist meine tiefe Überzeugung: Wenn sich Reden und Handeln der Menschen in Kirchen und Gemeinschaften entsprechen, dann wird die Kirche wieder als Ort der versöhnenden Gemeinschaft entdeckt werden. Genau dies ist unsere Erfahrung in der streetchurch: Menschen erleben, wie wir darum ringen, Versöhnung tagtäglich in unser und in ihr Leben «hineinzuleben». Sie fangen an, sich für die Kirche zu interessieren - oder besser: Für das, was Kirche im Sinne Jesu sein soll, nämlich eine Gemeinschaft, in der sich Menschen mit Gott, ihren Mitmenschen und mit ihrem eigenen Leben versöhnen dürfen.
Aufgerufen, uns auszuteilen
Je länger wir mit den uns anvertrauten Menschen mit ihren oft schmerzhaft gebrochenen Biographien unterwegs sind, desto klarer wird uns die Sendung Jesu, die unsere Sendung ist: Jesus teilte sich den Menschen aus. In seinem Reden, in seinem Handeln. Ganz und gar. Bis zum Äussersten am Kreuz. Und auch darin entdecken wir wieder die geheimnisvolle Entsprechung von Reden und Sein: Das Kreuz erfüllt die Worte Jesu beim letzten Abendmahl, und die Worte beim Abendmahl deuten das Geschehen am Kreuz heute für uns, die wir ihm nachfolgen: «Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird!» Mit diesen Worten offenbart uns Jesus gleichzeitig den Weg, auf den er uns in die Nachfolge ruft: Wir sind aufgerufen, uns auszuteilen an die Menschen in unserer Gesellschaft. Ganz und gar. Bis zum Äussersten.
Darum geht es in unseren Kirchen und Gemeinden und um nichts anderes! Wir haben in den Kirchen nicht eine Krise der Verkündigung oder eine Krise der Gottesdienstformen. Uns fehlt schlicht die Gemeinschaft, wie sie Jesus mit seinen Jüngern, mit Zöllnern und Sündern vorgelebt hat: jene Gemeinschaft, in der Menschen bedingungslos eingeladen sind, ihre schmerzvolle Realität mit uns zu teilen und im gemeinsamen Aushalten ihrer Kreuzeserfahrung Versöhnung geschehen kann.
Gemeinschaft statt Institution
Doch diese Gemeinschaft von Menschen, die leidenschaftlich das Leiden ihrer Mitmenschen teilen, hat ihren Preis - für uns als Einzelne sowie für uns als institutionelle Kirchen und Gemeinden. Mag sein, dass meine abschliessenden Gedanken als Provokation empfunden werden, doch halte ich die Forderung für dringlich und nicht aufschiebbar: Wir können es uns nicht länger leisten, 70 Prozent und mehr unserer finanziellen, personellen und persönlichen Ressourcen in das mühsame Aufrechterhalten der üblichen Gemeindebetriebe zu investieren. Wir brauchen ein radikales Umdenken! Wir brauchen Gemeinden, die es wagen, sich von ihren Gemeindeprogrammen - inklusiv allsonntäglichen Insider-Gottesdiensten - zu verabschieden, damit wir Christen freigesetzt werden, uns ganz und gar auf unsere Mitmenschen einzulassen und mit ihnen Gemeinschaftsformen einzuüben, in denen Leben alltäglich und Schmerz mitten im Alltag - im Reden, Schweigen und Handeln - geteilt werden kann.
«Wir haben in den Kirchen nicht eine Krise der Verkündigung. Uns fehlt schlicht die Gemeinschaft, wie sie Jesus mit seinen Jüngern, mit Zöllnern und Sündern vorgelebt hat.» Markus Giger
Ich persönlich trage eine tiefe Zuversicht in mir: Die Kirchen und Gemeinden werden wieder wachsen, aber dieses Wachstum wird nicht in den sonntäglichen Gottesdienstbesuchen gemessen werden. Die Ekklesia, die Gemeinde in der Gegenwart Jesu, wird wachsen, weil es mehr und mehr Gemeinschaften geben wird, in denen sich Menschen bemühen, dem Reden von Christus mit ihrem alltäglichen Handeln zu entsprechen. Ich bin voller Hoffnung, weil ich von immer mehr Christen höre, die bereit sind, sich an ihre Mitmenschen auszuteilen, sich ihrem Schmerz auszusetzen, ihn gemeinsam auszuhalten und wenn es denn sein darf, auch gemeinsam zu überwinden.
«Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird! - Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!»
Ja, Herr Jesus, nimm uns und sende uns! Nimm uns und teile uns aus an die Menschen mitten in ihren Nöten, am Karfreitag unserer Zeit. Amen.
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